Wir schreiben das Jahr 1891 und Sherlock Holmes ist tot. Er stürzte durch die Hand Moriartys den Reichenbachfall hinunter – Überlebenschance gleich null. Sein treuer Begleiter und Mitbewohner Dr. Watson trauert und will Holmes Tod nicht einfach hinnehmen. Er begibt sich auf eine persönliche Reise zwischen Realität und Irrealität – und erlebt sein eigenes Kriegstrauma erneut.
Watson trauert
In London zurückgekehrt, findet Holmes‘ Beerdigung statt, es sind alle gekommen, um Abschied zu nehmen: Dr. Watson und seine schwangere Frau Mary, sein Bruder Mycroft Holmes, seine Vermieterin Mrs. Hudson sowie Sergeant Lestrade von Scotland Yard. Der Sarg ist allerdings leer, denn seine Leiche wurde nie gefunden. Das ist der Punkt, an dem Dr. Watson Hoffnung schöpft: Holmes kann nicht tot sein. Hat er sich versteckt oder ist Moriarty noch am Werk und hält ihn gefangen?
Derweil machen sich Mary, Mycroft und Lestrade Sorgen um Watsons Zustand. Er ist in seiner Trauer gefangen und kann nicht loslassen. Bevor sein Kind auf die Welt kommt, soll er wieder Herr seines eigenen Verstandes sein und über Holmes‘ Tod hinwegkommen. Watson versucht sich mit der Theorie der Deduktion abzulenken und einen kleinen Fall zu lösen, indem er Gelerntes seines Meisters anwendet. Hierbei begegnet er auch einer spirituellen Quelle, die Holmes über ein Medium als Geist erscheinen lässt. Er bittet darum seine sterbliche Hülle zu finden, da Moriarty ihn gefangen hält und er so keinen Seelenfrieden findet. Watson begibt sich auf die Suche und ist Holmes‘ Leiche auf der Spur.
Einblicke
Watson im Krieg
Watson wacht völlig abgemagert und ausgemergelt in einer Art Bunker auf – ohne zu Wissen und Erinnerung, was passiert ist und wo er sich momentan befindet. Er scheint nicht alleine zu sein. Eine Gestalt ist anwesend und gibt ihm Kraft um sein Überleben zu kämpfen. Er schafft es aus dem Bunkerloch und findet sich mitten auf dem Schauplatz eines Kampfes wieder – zu seinem Erstaunen wie zu Kriegszeiten als Soldat in Afghanistan. Er gerät unter Beschuss und wird erneut an der Schulter getroffen. Träumt er nur oder erlebt er seine eigene Kriegszeit noch einmal?
Watson erinnert sich an seine Kameraden – besonders an James Murray, der ähnlich faszinierende Fähigkeiten inne hatte wie Holmes – äußerst präzise Beobachtungsgabe und einen scharfen Verstand. Mit ihm erlebte und überlebte er einige schwierige Situationen im Krieg. Sein Leben hat der Murray zu verdanken, er selbst hat es nicht lebend aus Afghanistan geschafft. Watson macht sich seither Vorwürfe, da er durch das Töten eines Menschen eventuell das Leben seines Kameraden hätte retten können. Als Watson aufgrund seiner Verletzung als Soldat nach Hause entlassen wird, trifft er kurze Zeit später auf Holmes, mit dem er eine Wohngemeinschaft eingeht.
Fazit: Das überraschende Ende
Das wird natürlich nicht verraten, ein bisschen Neugier muss bleiben – es lohnt sich! Ich war über das Ende wirklich überrascht – zum einen über die grandiose Idee, zum anderen über die Umsetzung. Die Story um Holmes‘ Leiche und Watsons Kriegstrauma hängen beide zusammen und sind eng miteinander verwoben – das wird allerdings erst am Schluss klar. So sind die Überschneidungen von Watson, der in Trauer und Holmes‘ schwelgt, und Watson, der im Krieg seinen Kameraden verliert, und parallel erzählt werden, anfangs etwas verwirrend. Nach und nach löst sich die Verwirrung und am Ende fügt sich alle zusammen.
Der Leser wird hierbei Zeuge von verschiedenen Erzählsträngen rund um Dr. Watsons Vergangenheit und Gegenwart. Ich persönlich finde eine Geschichte, in der er die Hauptrolle spielt und nicht Holmes, eine logische Konsequenz und tolle Abwechslung. Die Story ist wirklich eine Überlegung wert und ich stimme den Worten im Klappentext zu: „Ein doppelbödiges Vexierspiel ganz im Geist von Conan Doyle, in dem man schon den Scharfsinn eines Sherlock Holmes bräuchte, um der Wahrheit zweifelsfrei auf den Grund zu gehen…“ Es öffnen sich hierbei viele neue Möglichkeiten ihm als eigene Figur noch mehr Aufmerksamkeit zu widmen – ich hoffe, dass es irgendwann weitergeht.
Die Zeichnungen und die Kolorierung sind mal wieder sehr gelungen. Watson ist älter, bärtiger und etwas ergraut – das macht ihn auch optisch zu einer starken Figur. Die Farbgebung passt wunderbar in die viktorianische Zeit: sie ist eher dunkel und in sepia gehalten mit vorwiegend Braun-, Rot- und Beigetönen, dezent mit grauen und blauen Akzenten. Sherlock- und Watson-Fans sollten sich auch diesen Comic anschaffen – aber Achtung: das ein oder andere Sherlock-Weltbild könnte leiden.
Was genau?
Titel: Dr. Watson
Autor: Stéphane Betbeder
Zeichner: Darko Perovic
Erschienen: 18.02.2018 (in Frankreich in zwei Bänden am 22.10.2014 und 10.11.2017 erschienen)
Verlag: Splitter
Seiten: 96, Hardcover (Doppelband)
Preis: 19,80 €